Wahlpflicht und demokratische Frühbildung

Aus Versehen schaute ich eine Sendung des BR — selber schuld, ich weiß! — mit dem Titel “Nichtwähler – Frustriert, verbittert, abgehängt?”. Nun, ich bezahle den Schmarrn mit, also darf ich mich auch entscheiden ihn zu gucken, auch wenn es schwer fiel nicht abzuschalten.

Wie schon bei vergangenen Wahlen werden Nichtwähler auch hier wieder einmal stigmatisiert. Zumindest kam das bei mir so rüber. Man begibt sich zwar auf Ursachensuche, aber so richtig ernst scheint man diese Suche auch nicht zu nehmen.

An einer Stelle, gegen Ende, wird uns dann gezeigt wie in einem katholischen Kindergarten — ja, ausgerechnet in einem katholischen Kindergarten — versucht wird den Kindern “Demokratie” durch Abstimmungen über Projektthemen für das Folgejahr beizubringen. Schlechtere Werbung für die aktuelle Form von Demokratie als deren Vermittlung in einem katholischen Kindergarten kann ich mir zwar vorstellen, aber darüber muß ich erst eine Weile sinnieren.

Zu Wort kommt dann die Leiterin der Einrichtung:

Demokratie ist eigentlich die einzige Gesellschaftsform, die man wirklich lernen muß. Und einüben muß. Und deswegen fangen wir auch schon so früh im Kindergarten an, weil das wirklich ein Prozeß ist, den man mitnehmen muß.

S. Hofmann, Leitung Kindergarten St. Otto

Man möchte direkt fragen wieviele Gesellschaftsformen die Dame bereits erlebt hat und ob sie die besonders speziellen Aspekte unserer “Demokratie” für das Ideal schlechthin hält, oder bei einzelnen Punkten vielleicht doch leichte Bauchschmerzen hätte. Mir fielen da einige ein:

  1. Die aktuelle Demokratieform ist ungefähr so repräsentativ wie die DDR demokratisch
  2. Fraktionszwang, manchmal euphemistisch auch als Fraktionsdisziplin bezeichnet, verstößt gegen das Grundgesetz. Erinnert sich noch jemand an Artikel 38 GG, Satz 1?: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages […] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. … ja ja, ich verstehe schon. Sie sind zwar nicht weisungs- sehr wohl aber überweisungsgebunden. Steht ja nicht drin, daß sie das nicht sein dürfen.
  3. 5%-Hürde … soviel zum Thema: “jede Stimme zählt”
  4. Überhangmandate

Die Liste könnte man fortführen. Und da hätten wir über Themen wie die Minderheitsregierung von vor einigen Jahren mit ihrer Pseudomehrheit1 noch nicht gesprochen.

Gegen Ende der Sendung kam dann ein gewisser Herr Speer — seines Zeichens Politaktivist — zu Wort, welcher allen Ernstes eine Wahlpflicht einführen möchte. Alle die nicht Wählen gehen, müßten dann entsprechend eine Strafe bezahlen. Mit keinem Wort erwähnte er mögliche Unzulänglichkeiten2 oder bspw. die Tatsache, daß eine Wahlpflicht ohne Nein-Stimme der strafbewehrte Zwang zur Wahl zwischen Pest und Cholera wäre. Na bravo! Es braucht schon einigen Hochmut um derlei zu fordern, während bei jeder Wahl bisher Hunderttausende bis Millionen Stimmen weggeworfen werden. Man möchte dem Aktivisten Speer einen Stinkefinger pro ignorierter Stimme zeigen. Gern auch “in Stereo”.

Daß ihm überhaupt eine Bühne geboten wird und sein Redebeitrag deutlich positiv konnotiert in der Sendung eingebunden ist, sagt einiges über die öffentlich-rechtlichen Echokammern unserer Eliten3 aus.

Ignorierte Stimmen? Häh? Geht’s noch, Olli? Na klar! Laut amtlichem Endergebnis der Bundestagswahl von 2017 wurden Stimmen wie folgt ignoriert:

  • Erststimmen : 1422853
  • Zweitstimmen: 2325533

So, Herr Schlaubergeraktivist, was entgegnen Sie mir denn nun? … jede Stimme zählt und so?! Verächtlicher als mit einer solchen Forderung nach Wahlpflicht kann man einerseits jenen Wählern, die sich trotz der Tatsache daß ihre Stimme absehbar ignoriert werden wird noch ins Wahllokal schleppen, und andererseits den Nichtwählern nicht entgegentreten. Aber Hauptsache die Eltern des Herrn sind, als er im Kleinkindalter war, über die Tschechei in den goldenen Wertewesten geflohen. Da hat er ja so richtig das böse DDR-System erster Hand erleben dürfen (erzwungenes gemeinsames Zähneputzen im Kindergarten!) und dadurch natürlich eine ganz andere und total wertvolle Sicht auf die realexistierende “repräsentative Demokratie” bundesdeutscher Bauart; nämlich jene durch eine rosarote Brille mit falscher Dioptrienzahl. Zitat:

Manchmal kommt’s mir vor, als hätten wir vergessen was für ein großes Geschenk es ist, daß wir wählen gehen dürfen … Ich bin selber in Leizpig geboren. Meine Eltern sind aus … über die Prager Botschaft geflohen, weil sie in die Freiheit wollten. Weil sie in eine echte Demokratie wollten. […]

Geschenk? Die Wahl zwischen Pest und Cholera als Geschenk zu bezeichnen ist wiederum Zeugnis des Hochmuts dieses “Politaktivisten” (Untertitelung in der Sendung). Und seine Eltern? Tja, ist schon bitter wenn man meint “in die Freiheit” zu fliehen und in eine “echte Demokratie” und dann kommt man in Helmut Kohls BRD von 1989/1990 an. Das Erlebnis hatten jedoch eine Unmenge anderer Menschen Ende 1990 ebenfalls, auch wenn sie nicht aktiv geflohen waren. Und es bedurfte auch einiger Zeit bis den Betroffenen alle Auswirkungen dieser … nennen wir es einmal “Entscheidung” … klar wurde.

Bei solchen Flitzpiepen und ihrem pseudointellektuellen Dünnschiss kann ich es keinem Nichtwähler verargen sich nicht aufgerafft zu haben. Millionen Wähler die ihre Stimme gültig abgegeben haben werden regelmäßig und “regelkonform” ignoriert. Weder diesen Wählern noch den Nichtwählern wird die Option “Nein” (jeweils für Erst- und Zweitstimme) überhaupt nicht angeboten. Aber Wahlpflicht einführen wollen. Nee, is klar!

// Oliver

PS: Ich bin nicht unpolitisch. Das Gegenteil ist der Fall. Verdruß bereiten vor allem die Politiker und deren Politik. Aber deren Politik ist eben gerade nicht alternativlos und auch nicht die einzig denkbare, oder die beste denkbare …
PPS: Berechnungsgrundlage (basierend auf dem Wikipediaartikel):

const GESAMT: u32 = 46_976_341;
fn main() {
    let btw2017_erst: Vec = vec![
        14_030_751, 11_429_231, 5_317_499, 3_249_238, 3_966_637, 3_717_922, 3_255_487, 589_056,
        245_659, 22_917, 45_169, 93_196, 166_228, 1_204, 62_622, 6_114, 35_760, 1_537, 7_517,
        2_205, 4_300, 6_316, 15_960, 2_570, 772, 1_142, 903, 672, 242, 2_458, 2_176, 1_717, 1_352,
        884, 506, 439, 371, 100_889, // andere
    ];
    let btw2017_zweit: Vec = vec![
        12_447_656, 9_539_381, 5_878_115, 4_999_449, 4_297_270, 4_158_400, 2_869_688, 463_292,
        454_349, 374_179, 176_020, 173_476, 144_809, 97_539, 64_073, 63_203, 60_914, 58_037,
        41_251, 32_221, 29_785, 23_404, 11_558, 11_661, 10_009, 9_631, 6_693, 5_991, 5_617, 3_032,
        2_054, 1_291, 911, 533,
    ];
    let hürde: u32 = (GESAMT as f64 * 0.05f64).trunc() as u32;
    println!("5%-Hürde: {}", hürde);
    let ignorierte_erst: u32 = btw2017_erst.iter().filter(|&x| x < &hürde).sum();
    let ignorierte_zweit: u32 = btw2017_zweit.iter().filter(|&x| x < &hürde).sum();
    println!("Ignorierte Erststimmen : {}", ignorierte_erst);
    println!("Ignorierte Zweitstimmen: {}", ignorierte_zweit);
}
  1. Und ja, ich halte es für absolut skandalös, daß einerseits Parteien mit unter 5% der Stimmen kategorisch ausgeschlossen werden, andererseits aber auch einmal 1,2% der Stimmen zur echten einfachen Mehrheit fehlen können und dennoch eine Mehrheit der Mandate im Bundestag daraus hervorgeht. []
  2. Fraktionsdisziplin, Überhangmandate, nicht-repräsentative Besetzung des Parlaments, Überweisungsgebundenheit, keine Möglichkeit außerhalb der Nasen- und Parteienwahl alle vier Jahre mitzubestimmen, weil sich die sogenannten Volksparteien allesamt mit Verweis auf Hitlers Machtübernahme weigern dem sogenannten Souverän dieses Recht einzuräumen; übrigens wie die Ablehnung von Atomwaffen auf deutschem Boden eine durchaus mehrheitsfähige Entscheidung! []
  3. Wieviele der angetretenen Parteien wurden nochmal im Hauptprogramm von ARD und ZDF besprochen oder kamen zu Wort? []
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