Es gibt auf der Welt viele Bücher und auch viele Nationalepen. Das geht von der Klassik mit den großen Werken der Griechen, über das frühe Mittelalter und Mittelalter mit Hildebrandlied, Nibelungenlied, Edda und so weiter. Eines, was man all diesen Werken sicher nachsagen kann, ist daß sie vielfach über kriegerische Handlungen sprechen. In einem Werk, daß sich mit der Menschheitsgeschichte oder sogar -werdung beschäftigt, wie der Bibel oder anderen religiösen Werken, bleibt dies sowieso nicht aus. Die Finnen aber, ein Volk dessen Ursprung fernab seiner heutigen Siedlungsräume liegt, lassen uns in ihren Liedern – sie nennen es “runo” (Einzahl), was man durch den schwedischen Einfluß als “Runen” übersetzte – teilhaben an den Abenteuern dreier Helden, die als vorrangige Waffen nicht Schwerter sondern Lieder und Zaubersprüche – eben besagte Runen – einsetzen. Ein finnischer Philologe names Elias Lönnrot hat diese Lieder im Laufe des vorletzten Jahrhunderts gesammelt und damit, so sagt man, den Finnen ein Nationalempfinden gegeben. Die Sammlung nannte er Kalewala.
Wie einige vielleicht wissen, war Finnland oft der Zankapfel zwischen Rußland und Schweden in den Jahrhunderten vor dem ersten Weltkrieg. Helsinki hieß damals auf Schwedisch Helsingfors und noch heute findet man auf den Verkehrsschildern in Finnland die finnischen und schwedischen Bezeichnungen für Orte und Straßen – auch Helsingfors. Schwedisch ist eine der Amtssprachen neben Finnisch.
Auch wenn in heutiger Zeit das Gesamtwerk nicht als einhundert Prozent authentisch angesehen wird, weil Lönnrot eigene Deutungen einbrachte und sogar Teile selbst verfaßte, sowie größere Teile mindestens modifizierte, besticht die Kalewala durch ihre sprachliche Schönheit. Nun gut, über das finnische Orginal kann ich leider nicht urteilen, aber obwohl wegen der Übersetzung ins Deutsche die Verse nicht mehr in der klassischen Reimform vorliegen – was im finnischen Orginal wohl der Fall ist – ist es diese ganz andere Form, die diesem Werk einen eigenen Zauber verleiht. Ich habe die Kalewala mit viel Freude und überraschend schnell durchgelesen gehabt. Hier mal ein Beispiel für die sprachliche Schönheit:
So schön sang Wäinämöinen, so lieblich tönte seine Kantele, daß allen Menschen die Tränen in die Augen traten. Ja, dem Sänger selbst flossen dicke Tränen über Backen und Kinn auf die Brust.
Und weiter rollten sie über die Knie und Füße zur Erde und den abschüssigen Strand hinab ins Meer.
Da brach Wäinämöinen sein Spiel ab und hob das Haupt und sprach: “Ist unter den Jünglingen und Mädchen hier eines, das meine Tränen aus dem Meere aufsammelt?”
Aber keiner erbot sich dazu.
Wäinämöinen fragte noch einmal: “Ist keiner da, der meine Tränen aus dem Meer zurückbringt? Wem es gelingt, der soll zum Lohn ein prächtiges Federgewand erhalten!”
Da kam ein Rabe geflogen und krächzte: “Ich hole dir die Tränen aus dem Meer!”
Er flatterte über dem Wasser und stieß mit dem Schnabel hinein, aber er wagte nicht unterzutauchen und so konnte er die Tränen nicht erhaschen.
Darum erhielt er auch kein buntes Federkleid, sondern ist schwarz geblieben bis auf den heutigen Tag.
Jetzt aber kam eine Ente gewatschelt und schnatterte: “Ich will’s versuchen!”
Und sie tauchte ins Meer hinab, bis tief auf den boden und holte alle Tränen Wäinämöinens herauf.
Aber die hatten sich alle verwandelt und waren zu harten, herrlich schimmernden Perlen geworden.
Die Ente aber hat seitdem ihr schön buntes Federgewand.
Ende der 17. Rune, Ausgabe von Arthur Luther, Leipzig 1936
Wäinämöinen, einer der drei Haupthelden Epos, der weißbärtige Sänger, der den Finnen viele der Errungenschaften, wie Ackerbau brachte, so die Sage, betörte mit seinem Gesang sämtliches Volk und sämtliche Tiere auf einer Insel, die auf dem Weg zu einem Ziel der drei Helden lag: Nordland (auch Pochjola). Die drei Helden Ilmarinen der kunstvolle Schmied, Wäinämöinen der Sänger und Lemminkäinen der tollkühne Heißsporn hatten sich nämlich aufgemacht den Sampo zu rauben, jenes Gerät, das Ilmarinen der “Wirtin des Nordlands” – Louhi – geschmiedet hatte weil ein Schwur von Wäinämöinen ihn dazu verpflichtete. Der Sampo nun ist ein Gerät, das allerlei Dinge aus dem Nichts erschaffen kann. Sei es schnödes Gold oder auch Salz und andere Dinge. Entsprechend begehrt war er auch bei den beiden zerstrittenen Völkern von Pochjola und Kalewala. Kalewala, oder “Land der Söhne Kalewas”, ist ein Synonym für Finnland, während bei Pochjola die Mutmaßungen meist in Richtung Lappland führen. Ukko, nach den Legenden der Hauptgott, hatte schon einmal einen Sampo geschaffen, ihn aber dann wieder vernichtet. Vermutlich weil er zu Zank zwischen Völkern führte, ebenjenem Zank der nun durch Ilmarinens Schöpfung neu entstand.
Louhi, die böse Hexe und Hauptantagonistin, hatte den Sampo in einer Höhle verborgen und mit Zaubern belegt, die den Sampo neun Klafter tiefe Wurzeln in den Fels schlagen ließen. Dadurch saß der Sampo fest am Platze. Letztlich sollte es unseren drei Helden aber gelingen den Sampo zu rauben und sich auf den Heimweg zu machen. Doch hier möchte ich meine Leser ermuntern sich selbst dieses Buch zur Hand zu nehmen und nachzulesen, ob es ihnen gelang den Sampo nach Kalewala zurückzuschaffen und wie die Geschichte ausging.
Die Kalewala führt uns von der Schöpfungsgeschichte über die Heldentaten Wäinämöinens, Ilmarinens und Lemminkäinens um uns die Geschichte der Finnen auf zauberhafte, ja märchenhafte Weise näher zu bringen. Für mich eines der schönsten Bücher, die ich bisher gelesen habe …
Nur Kalewa, der sagenhafte Held, der dem Buch und dem Land den Namen gab, der tritt nicht in Erscheinung. In meiner Ausgabe wird er komplett übergangen. Aber ich habe mir schon eine andere Ausgabe besorgt 😉
// Oliver